1

In Tibira, auf den Inseln von Wintermoor, lebte eine alte Zwergin. Sie zeigte sich nur selten ihren Mitzwergen, denn sie verachtete das Leben. Ihr Mann war früh in einem der Elfenkriege gefallen; seit Jahrzehnten musste sie sich alleine durchkämpfen. Niemand kümmerte sich um sie und sie kümmerte sich um niemanden. Sie hasste den Unaussprechlichen und Unerkennbaren dafür, dass er ihr so ein mühseliges und nutzloses Leben zumutete. 

So bitter war sie, dass sie jeden Tag kurz davor stand, sich in einen hässlichen Troll zu verwandeln. Die alte Zwergin begriff selbst nicht, warum sie nicht schon lange zu einem diesen wütenden, haarigen Kreaturen der Nacht geworden war. Es würde ihr ganz gut passen, ihre Nachbarn nachts als Troll heimzusuchen und ihnen das Leben schwerzumachen. Pater Fjodor vom Menschenkloster Sankt Isaak bei Kam, der ihr einmal in der Woche etwas zu Essen brachte, bezeichnete die ausbleibende Verwandlung als eine Gnade.  

»Pah, Gnade«, sagte die alte Witwe zu sich. »Was ist so gnadenvoll daran, eine mittellose Zwergin zu sein? Lieber wäre ich ein Troll, dann wäre ich frei, umherzustreifen und zu plagen, wen ich will!« 

In einer klirrend kalten Nacht, als der Frost die Tannen um ihr Häuschen wie Silber glitzern ließ, beschloss sie endlich, die Tür aufzulassen und das Zeichen des Namesda vom Torbogen zu reißen und in den Schnee zu schmeißen. Sollten die Trolle doch kommen und sie holen. Es war ihr recht. Vielleicht würde sie dann endlich selbst ein Troll werden. 

2

Das Zeichen des Namesda war ein Versprechen. Ein Versprechen, dass ein König kommen würde, um die Elfen und Zwerge zu versöhnen und die Menschen aus der Aetherwelt zu vertreiben. Die alte Zwergin hatte lange auf den Namesda gewartet. Sie hatte sich lange danach gesehnt, dass er endlich Frieden und ein besseres Leben bringen würde. Aber er kam nicht. Stattdessen war sie ausgerechnet auf die Almosen eines Menschen angewiesen – eines dieser Eindringlinge von der Erde. Was für eine Demütigung für eine stolze Zwergin. 

Die alte Witwe hatte genug von den Demütigungen. Sie hatte genug davon, ein Leben unter dem Durchschnitt zu führen. Und deshalb ließ sie in dieser Nacht zum ersten Mal in ihrem Leben die Tür offen. Das abgerissene Zeichen des Namesda versank im weichen Pulverschnee. Ihr Häuschen war nicht mehr gekennzeichnet. Die Trolle konnten kommen. 

Und sie kamen. Kaum verschwand das Licht der untergehenden Abendsonne hinter den eisigen Baumkronen, war ihr Kreischen aus dem Nordwesten zu hören. Die Trolle suchten eine Zwergenseele, die sie mit in den Abgrund von Urugal nehmen konnten. 

Die alte Frau war bereit. 

3

Es kam anders als erwartet. Die alte Zwergin verwandelte sich nicht in einen Troll, als die ersten haarigen Biester über die Schwelle ihres Häuschens traten. Sie wurde nicht zu einem von ihnen, um in der Nacht all diejenigen zu plagen, die sich nicht in ihren eigenen vier Wänden verschanzt hatten. 

Wütend und brüllend wie tollwütige Hunde fielen die Trolle über die alte Witwe her und schlugen so lange auf ihren Schädel ein, bis sie das Bewusstsein verlor und blutend auf dem kalten Lehmboden liegen blieb. 

Als die Frau wieder aufwachte, war sie von äußerster Finsternis umgeben. Sie konnte keine Hand vor Augen sehen; ein eisiger Nordwind fuhr über ihr zerschlagenes Gesicht. Sie war zu einer Gefangenen in den dunklen Kerkern von Urugal geworden.

Die Trolle dachten nicht im Traum daran, sie zu einer der Ihren zu machen. Soweit es nach ihnen ging, würde die alte Witwe nie mehr frei sein. 

4

Arhus, ein Feenwächter, hatte beobachtet, wie die alte Witwe, blutend und fast buchstäblich zu Brei zusammengeschlagen, aus ihrem Heim geschleift und nach Urugal gebracht wurde. Er hatte Mitleid mit ihr. 

Es war die Aufgabe der Feen, nur die Seelen unter dem Zeichen des Namesda vor den Kreaturen der Nacht zu beschützen. Die alte Zwergin hatte in einem Moment bitterer Verzweiflung das Zeichen vom Torbogen ihres Häuschens gerissen. Arhus hatte es genau gesehen, er hatte sogar den Schmerz in seinem Herzen gespürt, unter dem sie litt. Also beeilte er sich zum Nordberg von Ki-zah, wo der Aetherkönig der Feen, der Gi-rin, thronte. 

»Mein König, ich würde dieser Frau gerne helfen«, sagte Arhus. »Auch wenn sie sich vom Namesda abgewandt hat.«

Der Gi-rin strich über seinen langen weißen Bart und sah nachdenklich aus. Es war für Feen lebensgefährlich, wenn nicht unmöglich, in den Abgrund von Urugal zu dringen, um eine Seele aus den Klauen der Orks und Trolle zu retten. 

»Gibt es denn etwas«, fragte der Gi-rin, »das sie würdig macht, dass ich das Leben eines meiner Feen für sie riskiere?« 

Arhus musste zugeben, dass ihm auf Anhieb kein Beispiel einfiel. Die alte Frau hatte alle anderen in ihrem Umfeld gehasst und wurde von ihnen zurückgehasst. Niemand würde sie vermissen. Es gab keine einzige gute Tat, die sie hätte vorweisen können. Da dachte Arhus an die Zwiebel. Es war nicht viel, und sein Gesicht hellte nicht gerade auf, als er sich an die Begebenheit zurückerinnerte, aber vielleicht reichte es ja. 

»Mein König«, sagte Arhus. »Einmal begab es sich, dass sie in ihrem kleinen Gemüsegarten Rotkohl und Zwiebeln erntete. Ein alter blinder Bettler kam vorbei. Er zieht in jeder Erntezeit durch die Wälder von Wintermoor, in der Hoffnung, dass sich eine Zwergenseele seiner erbarmt und ihm eine Kleinigkeit zu essen gibt. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte sie ihn immer ignoriert, doch dieses Mal warf sie ihm eine Zwiebel zu, als er vorbei kam. Zugegeben, es war eine sehr kleine und runzlige Zwiebel, aber sie war essbar.«

Der Gi-rin nickte. »Nun gut«, sagte er und sah durch eines der hohen Fenster im Thronsaal zum Himmel. »Wenn es der Unaussprechliche und Unerkennbare erlaubt, nimm eine Zwiebel und versuche, sie damit aus ihrem Verlies zu ziehen. Wenn die Zwiebel nicht bricht, dann soll es so sein, dass sie gerettet wird.« 

»Ja, mein König.«

5

Arhus suchte sich eine besonders große und kräftige Zwiebel aus, weitaus besser als die, die die alte Witwe dem Bettler gegeben hatte. Dann wartete er die Nacht ab, wenn die Orks und Trolle rausgingen und suchten, wen sie erschlagen und verschleppen konnten. Er schlich sich in die Unterwelt von Urugal und suchte das Verlies der alten Frau auf. Es dauerte nicht lange, bis er sie fand. Er hörte die Frau von weitem fluchen und schimpfen. Sie hatte noch nicht wie die meisten anderen Gefangenen ihre Stimme und ihr Gesicht verloren. Das würde kommen, wenn sie nur lange genug in der Finsternis feststeckte. Aber genau das wollte der Feenwächter ja verhindern. 

Die Kerker von Urugal waren nach oben hin offen, wie Löcher im Boden, und ihre Wände waren so glatt, dass keiner, der dort gefangen war, es schaffte, aus eigener Kraft hochzuklettern. Arhus warf sich an den Rand über dem Loch, in dem die alte Zwergin gefangen war, löste die Schale der Zwiebel, sodass sie wie ein Seil nach unten hing, und rief: 

»Gute Frau, greifen Sie nach der Zwiebel und ich werde Sie hochziehen!« 

Die alte Zwergin lachte höhnisch. »Mit einer Zwiebel? Wer kommt denn auf so eine dumme Idee?«

Arhus seufzte. »Gute Frau, Sie haben einst einer armen Seele eine Zwiebel zugeworfen. Und nun halte ich Ihnen eine hin. Bitte, lassen Sie sich helfen.« 

»Na gut«, sagte sie und schob noch einen Fluch hinterher. »Hab hier ja sonst nichts Besseres zu tun.«

Die alte Zwergin war wütend, dass sie sich immer noch nicht in einen Troll verwandelt hatte. Sie tastete die Wand dort ab, von wo sie die Stimme des Feenwächters gehört hatte, bis sie die Zwiebelhaut in Händen hielt. 

»Also los«, rief sie. »Zieh mich raus!«

Behutsam begann Arhus zu ziehen und betete, dass die Zwiebel nicht auseinanderbrechen würde. Doch die alte Zwergin steckte nicht alleine in dem Loch fest. Die knochigen Arme eines Mannes, der schon sehr lange im Kerker dahinsiechte, schlangen sich um ihre Beine. Er hatte bereits vor Jahrzehnten sein Gesicht und seine Stimme verloren, aber der Gedanke, endlich aus dieser unendlichen, schwarzen Finsternis befreit werden zu können, gab ihm neue Kraft. 

Die alte Zwergin fluchte. Sie zappelte und trat nach hinten. »Das ist meine Zwiebel!«, schrie sie. »Ich habe sie bekommen. Ich. Lass mich los, du verfluchter Schmarotzer. Wegen dir wird die Zwiebel noch reißen. Sie gehört mir, nicht dir.« 

Und noch einmal fluchte sie so laut, dass Arhus befürchtete, die Trollwachen würden sie hören und herbeieilen. In dem Moment, als die alte Zwergin die Zwiebel zu ihrem alleinigen Eigentum erklärte und dabei mit aller Kraft nach unten trat, riss die Zwiebelhaut, an der sie sich festhielt. Zusammen mit dem anderen Gefangenen stürzte sie zurück auf den kalten Boden des Verlieses. 

Ihr gellender Schrei riss durch den gesamten Abgrund. Arhus musste fliehen, ehe die Trolle und Orks ihn entdeckten. Er weinte bittere Tränen, als er draußen an der freien Luft war. Und die böse Zwergin blieb da, wo sie war, bis auf den heutigen Tag. 


Nach einer Geschichte von Fjodor Dostojewski, in »Die Brüder Karamasow«. Bild: Vincent van Gogh, »Rotkohl und Zwiebeln«.

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